Die Dichtergärten in der Welt des Islam sind ebenso zahlreich wie unbekannt. Annemarie Schimmel
Das Gedicht kenne ich aus meinen jungen Jahren. Mein Vater hörte eine Aufnahme davon beinahe täglich. Oft rezitierte er gefühlvoll Verse daraus. Dabei schossen ihm die Tränen in die Augen. Ich war stets mitgerissen. Die klangvollen Verse prägte ich mir unweigerlich ein. Hörte ich die Aufnahme, wenn ich mich in meinem Zimmer oder sonst wo im Hause aufhielt, dann summte ich mit. Ein ergreifender Chorgesang erfüllte die Räume unseres Hauses. Der Chor sang mit lauter und starker Stimme gereimte Verse, die von Liebe, Sehnsucht und Hoffnung handelten. Manchmal lehnte ich am Türrahmen des Wohnzimmers, aus dem der Gesang in mein Zimmer drang. Wie erstarrt beobachtete ich meinen Vater und lauschte den Klängen und Worten. Noch nie im Leben hörte ich etwas Vergleichbares. Die „Hamziyya“ ist ein Lobgedicht von Imam Al-Busiri, dem Autor der „Burda“, einer Ode des Lobes, und handelt vom Leben und der Wesensart des Propheten Mohammed, Frieden und Segen mit ihm, und besteht aus über 400 gereimten Versen.
So geschah es, dass ich im November des Jahres 2018, das Lobgedicht in Tunis (der Hauptstadt Tunesiens), in einer wohlduftenden Zawiya1, nämlich der Zawiya des Sidi Belhassen El-Halfaoui, erleben durfte. Der Chorgesang begann langsam und mit sanfter Stimme. Buchstabe für Buchstabe wurde behutsam und doch mit Kraft rezitiert. Ich spürte, wie der Gesang meinen Körper zum Beben brachte. Es war spannend. Und die Spannung stieg mit dem Fortlaufen des Gedichts. Das Tempo erhöhte sich und die Sänger wurden nach und nach schneller. So schnell, dass ich zwischendurch Atem holen musste, um wieder mitsingen zu können. Mein Herz raste. Die Melodie war einzigartig. Irgendwie nicht fassbar. Trotzdem singbar. Im Takt der Melodie wog mein Körper automatisch hin und her. Wie die Wellen an einem Strand, die erst herbeieilen, im Schaum vergehen, und dann die nächste ihren Schwung nimmt. Immer deutlicher, stärker und gefühlvoller ertönte der Gesang. Er durchdrang und erweckte alles und jeden. Die Räume der Zawiya frohlockten, so schien es mir. Alles lebte. Und pries. Die Zeit stand still. Als die Rezitation sich verlangsamte, schien ich zu erwachen. Plötzlich spürte ich den Schmerz in meinen Knien und wechselte die Sitzposition. Nachdem der letzte Vers gesungen wurde, wurde es still. In dieser Stille gab es tatsächlich absolut keine Unruhe. Alles warf sich nieder.
Nach dem Gesang wurde Essen ausgegeben. Das war Tradition. Darin läge viel Segen. Die Gesichter waren hell und die Wangen gerötet. Die Anwesenden lächelten, weinten oder schwelgten.
1 Rückzugsort für Spiritualität und geistliches Besinnen.
E V E N T: Stand (November 2018), freitags, nach dem Nachmittagsgebet in der Sidi Belhassen El-Halfaoui Zawiya. Es kann sein, dass diese Daten nicht mehr aktuell sind. Schreibt uns gerne an, wenn ihr näheres dazu wissen möchtet. Wir haben Kontakt zum Leadsinger des Chors.
Al-Hamziyya von Imam Al-Busiri (Arabic)
Ez-Zitouna-Moschee, Tunis (Tunesien)