Mahomets Gesang

Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) „Mahomets Gesang“ ist eine Hymne, die in der Genieperiode um 1772/73 entstanden ist. Das Preislied ist ursprünglich als Wechselgesang zwischen Fatima1 und ihrem Mann Ali2 konzipiert worden, und zwar als Teil eines gesamten Dramas. Nach einer zweiten Überarbeitung Goethes und dem endgültigen Druck in den Schriften (1789), wird das dramatische Fragment mit dem Titel Mahomets Gesang (vorher Gesang) als Hymne bekannt. Es ist kein Gesang des Propheten, sondern ein Gesang auf den Propheten Mohammed, Frieden und Segen mit ihm.


Goethe und die Religion


Schon sehr früh hat sich Goethe mit dem Thema Religion beschäftigt und pflegte eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Christentum, der antiken Mythologie und dem Islam. Goethe wächst in einem protestantischen Elternhaus auf. Er kennt den Inhalt der Bibel und befasst sich mit dem Alten Testament. In der Zeit von 1771 bis 1772 arbeitet er tiefgehend mit dem Heiligen Koran3. Mit 23 Jahren liest er die Koran-Übersetzung David Friedrich Megerlins, wobei er diese deutlich kritisiert und als „elende Produktion“ bezeichnet: Die türkische Bibel oder des Koran allererste deutsche Übersetzung aus der Arabischen Urschrift. Außerdem schaut er sich noch andere historische Darstellungen und Quellen an; der persische Dichter Hafis inspiriert ihn ebenso in hohem Maße und er gewinnt sich an ihm neu.


Theologische Bildtraditionen


Quelle und Fluss (bzw. Strom) sind traditionelle Bilder aus der Religion. Der Fluss als Symbol steht für Fruchtbarkeit, ewiges Leben, göttliche Rede und Gnade Gottes, Reinigung und Heilung, während bei der Symbolbildung die gerichtete und bewegte Energie des Wassers und die damit gepaarte Funktion als Wegweiser bedeutsam sind. Der Strom in der Hymne ist eine bewegte Kraft, denn zunächst entsteht er mechanisch und nimmt seinen natürlichen Lauf, wird jedoch anschließend zu einer gerichteten Energie, die sich dazu entschließt „schlangenwandelnd“, „unaufhaltsam“ und „sausend“ seine Bruderquellen mitzunehmen, zum „erwartenden Erzeuger“ hin.


Eine überaus interessante Gegenüberstellung ist, dass im Alten Testament die Gnade und das Heil Gottes als fließender Strom vorgestellt werden (Jes 66,12; 19,5; Ez 30,12), während im Koran die Gnade für den Propheten Mohammed, Frieden und Segen seien mit ihm, selbst steht: „Und Wir4 haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.“5 Beim Verlauf des Stroms handelt es sich um einen Wasserkreislauf (von der Wolke, zum Boden, bis zum Erzeuger, dem Ozean). Auch im Koran gibt es zahlreiche Stellen, die vom Wasserzyklus sprechen. Eine davon: „Siehst du nicht, dass Allah vom Himmel Wasser herabkommen und es dann als Quellen die Erde durchziehen lässt? Hierauf bringt Er damit Pflanzen von unterschiedlichen Arten hervor. Hierauf lässt Er sie austrocknen, und da siehst du sie gelb werden. Hierauf macht Er sie zu zermalmtem Zeug. Darin ist wahrlich eine Ermahnung für diejenigen, die Verstand besitzen.“ (Koran 39:21) Der Strom in der Hymne bewegt sich zyklisch, wie beim Kreislauf des Wassers, das vom Meer ansteigt, sich in den Wolken ansammelt, auf die Erde regnet, um sie zu befruchten und als Bäche und Flüsse zum großen Meer zurückzukehren.


Poetologische Perspektiven


Die Hymne ist ein Gesang auf Mohammed, in der Goethe den Stromlauf als Gleichnis für einen Lebensweg einsetzt, nämlich den des erhabenen Gegenstandes dieser Hymne: den Propheten Mohammed, Frieden und Segen seien mit ihm. Der Topos vom „Strom des Genies“ ist ein wesentlicher Aspekt, denn dieser prägt das metaphorisch symbolische Schreiben. Das Genie mittels der Metapher des majestätischen Stroms darzustellen, ist ein Hauptmerkmal der Genieperiode. Goethe vergleicht das blühende und standfeste Genie, den Propheten Mohammed, Frieden und Segen seien mit ihm, mit einem befruchtenden Fluss, der zuerst als Quell entspringt, beständig größer wird, bis er zum Schluss zu einem kraftvollen, alles mit sich reißenden Strom wird. Er versinnbildlicht die wirkungsvolle und genialische Schöpferkraft des Propheten Mohammed, Frieden und Segen seien mit ihm, der sich beständig seinen Weg bahnte. Es ist eine Hymne mit einem Helden, der gleichzeitig der erhabene Gegenstand ist. Das ganze Gedicht über bewegt sich der Strom in Richtung „Herz“. Währenddessen macht der prophetische Charakter hinter dem Symbol des Stroms eine menschliche Entwicklung durch. Mittels poetischer Sprache wächst er heran, zu einem herrlichen Geschlecht, unaufhaltsam und triumphal. Und so trägt er seine „Sehnenden“ zum Ziel, um sich dort mit ihnen zu vereinen, und zwar gen dem erwartenden Erzeuger, freudebrausend an das Herz.


Seht den Felsenquell

Freudehell

Wie ein Sternenblick!

Über Wolken

Nährten seine Jugend

Gute Geister

Zwischen Klippen im Gebüsch.


Jünglingfrisch

Tanzt er aus der Wolke

Auf die Marmorfelsen nieder

Jauchzet wieder

Nach dem Himmel


Durch die Gipfelgänge

Jagt er bunten Kieseln nach,

Und mit frühem Führertritt

Reißt er seine Bruderquellen

Mit sich fort.


Drunten werden in dem Tal

Unter seinem Fußtritt Blumen

Und die Wiese

Lebt von seinem Hauch.


Doch ihn hält kein Schattental

Keine Blumen

Die ihm seine Knie umschlingen

Ihm mit Liebesaugen schmeicheln

Nach der Ebne dringt sein Lauf

Schlangewandelnd.


Bäche schmiegen

Sich gesellig an

Nun tritt er

In die Ebne silberprangend

Und die Ebne prangt mit ihm

Und die Flüsse von der Ebne

Und die Bäche von Gebürgen

Jauchzen ihm und rufen: Bruder!

Bruder nimm die Brüder mit!

Mit zu deinem Alten Vater

Zu dem ewgen Ozean

Der mit weitverbreiteten Armen

Unsrer wartet

Die sich ach vergebens öffnen

Seine Sehnenden zu fassen

Denn uns frißt in öder Wüste

Gier´ger Sand

Die Sonne droben

Saugt an unserm Blut

Ein Hügel

Hemmet uns zum Teiche!

Bruder!

Nimm die Brüder von der Ebne

Nimm die Brüder von Gebürgen

Mit zu deinem Vater mit.


Kommt ihr alle! –

Und nun schwillt er

Herrlicher, ein ganz Geschlechte

Trägt den Fürsten hoch empor

Und im rollenden Triumphe

Gibt er Ländern Namen, Städte

Werden unter seinem Fuß.


Unaufhaltsam rauscht er über

Läßt der Türme Flammengipfel

Marmorhäuser eine Schöpfung

Seiner Fülle hinter sich.


Zedernhäuser trägt der Atlas

Auf den Riesenschultern, sausend

Wehen über seinem Haupte

Tausend Segel auf zum Himmel

Seine Macht und Herrlichkeit.


Und so trägt er seine Brüder

Seine Schätze, seine Kinder

Dem erwartenden Erzeuger

Freudebrausend an das Herz.



1 Fatima az-Zahra, die Lieblingstochter des Propheten Mohammed, Frieden und Segen mit ihm.

2 Ali, der Sohn des Abi-Taleb, der Onkel des Propheten, Frieden und Segen mit ihm.

3 Der Koran ist für die Muslime die Rede Gottes, welche dem Propheten Muhammed offenbart worden ist.

4 Das „Wir“ ist ein Pluralis Majestatis und steht für Gott bzw. Allah. Allah (von arab. „Ilah“, was Gott bedeutet) ist der Name des Wesen Gottes.

5 Koran (21:107). Dieser Vers wird von zahlreichen islamischen Exegeten umfassend erklärt und genießt eine auffällig besondere Stellung innerhalb des Islam per se. Es ist also gut möglich, dass Goethe diesen Vers kannte.


Die Zitate aus dem Koran stammen von der Koranübersetzung von Bubenheim & Elyas.

(Ein Teil) der 114. Sure aus dem Koran:

eine eigenhändige Abschrift von J. W. von Goethe

Titelblatt und Frontispiz der Erstausgabe des Westöstlichen Divans von Goethe, von Carl Ermer in Kupfer gestochen. Der arabische Text lautet: "Der östliche Divan vom westlichen Verfasser". (c) Wikimedia: Foto H.-P.Haack

Albumcover von Brother Ali